Yann Martel: Schiffbruch mit TigerWas für eine verrückte Geschichte. Was für eine verquere Psychologie. Ich bat ihn, mir noch eine andere zu erzählen, eine, die ein wenig einleuchtender war.

So lautet Pis Patels Reaktion, als er zum ersten Mal von einem christlichen Geistlichen die Jesus-Geschichte hört und sie mit den Geschichten vergleicht, die er vom Hinduismus gewohnt ist. Pi wächst im Indien der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als Sohn eines Zoodirektors auf.

Obwohl seine Eltern ihn weltlich erziehen und religiöse Rituale als reine Formsache sehen, begeistert sich der junge Pi erst für den Hinduismus, dann für das Christentum und schließlich auch noch für den Islam. Seine Beobachtungen über das Christentum aus der Sicht eines Hindus (»Das Christentum ist eine Religion, die es immer eilig hat«) sind dabei ebenso amüsant wie die Erklärungsversuche, die er seinen Eltern und erst recht den drei Vertretern der verschiedenen Religionen gibt. Das alles dient Yann Martel jedoch nur als Vorbereitung für die eigentliche Geschichte, um die es in diesem Buch geht.

Als Pi, der mit vollem Namen Piscine Molitor Patel heißt und nach einem französischen Schwimmbad benannt wurde, 16 Jahre alt ist, beschließt sein Vater, aus politischen Gründen sein Heimatland Indien zu verlassen und nach Kanada auszuwandern. Die Zootiere verkauft er, bevor er auswandert, an Zoos in aller Welt. Ein Teil davon reist an Bord desselben Schiffes, mit dem Pis Familie nach Kanada aufbricht. Mitten auf dem Pazifik sinkt das Schiff und Pi endet als einziger Überlebender in einem Rettungsboot – zusammen mit einer Tüpfelhyäne, einem Zebra, einem Orang Utan und einem bengalischen Tiger namens Richard Parker.

Innerhalb der ersten zwei Tage tötet die Hyäne vor Pis Augen das Zebra und den Orang Utan. Pi rechnet damit, dass er als nächster an der Reihe ist, doch kurz darauf erholt sich der Tiger von seiner Seekrankheit und tötet die Hyäne. Von da an ist Pi alleine mit Richard Parker.

Es beginnt ein zäher Kampf ums Überleben, in dem Pi sich nicht nur gegen die Elemente, vor allem das Meer und das Wetter, behaupten und für sich selbst genug Essen und Wasser auftreiben muss, sondern er auch noch Richard Parker versorgen und zähmen muss – oder ihm zumindest klar machen, dass er das Alpha-Tier der beiden ist. Eine große Stütze sind ihm dabei die Vorräte, die in dem Rettungsboot verstaut waren, ein Überlebenshandbuch für Schiffbrüchige mit vielen mehr oder weniger hilfreichen Tipps (»Grünes Wasser ist flacher als blaues«), seine Gedanken an Gott und sein Wissen über das Vermenschlichen von Tieren und die animalischen Seiten im Menschen.

Von Juli bis Februar treiben Pi und der Tiger auf dem Pazifik umher, bis sie schließlich in Mexiko an Land geschwemmt werden. Dort flüchtet Richard Parker in den Dschungel, bevor Pi gefunden wird, so dass ihm seine Retter, und vor allem die Vertreter der japanischen Schiffgesellschaft, die ihn später zum Untergang des Schiffes befragen, die Geschichte mit dem Tiger nicht glauben. Daraufhin erzählt Pi ihnen eine alternative Version, eine ohne Tiere, in der neben ihm auch seine Mutter und zwei andere Mitglieder der Besatzung im Rettungsboot landen, sich dann aber gegenseitig grausam umbringen.

Obwohl es in der Geschichte mit den Tieren ebenfalls nicht an wirklichkeitsnahen und grausamen Elementen mangelt, ist sie humorvoller und inspirierender als die zweite Version, die realistischer scheint. Genauso sei es mit Gott und der Religion, lautet Pis knappe Erklärung an die Schiffsvertreter für die beiden Versionen. Doch Martels Roman ist viel zu amüsant und spannend, um ihn alleine darauf zu reduzieren, dass er zeigt, wie die menschliche Fantasie und die Geschichten, die sie hervorbringt, den Menschen helfen, mit der Realität und biologischen Tatsachen fertig zu werden.

Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger | Deutsch von Manfred Allie und Gabriele Kempf-Allie
Fischer Taschenbuch 2004 (15. Auflage) | 384 Seiten | Jetzt bestellen