Uwe Timm: RotSittlichkeit ist mit der Fähigkeit zu weinen untrennbar verbunden.

Thomas Linde bringt seine Zuhörer öfter zum Weinen. Er verdient seinen Lebensunterhalt unter anderem damit, dass er Reden auf Beerdigungen hält. Da er die Leser dieses Buchs durchweg als »verehrte Trauergemeinde« anspricht, kann man auch den ganzen Roman »Rot« als eine Grabrede lesen. Ich möchte gleich zugeben, dass ich das Buch vielleicht nicht verstanden habe. Vielleicht ist es eine Grabrede auf Thomas selbst, der zu Beginn des Romans anscheinend überfahren wird, oder auf seine früheren Weggefährten, mit denen er die Welt verändern wollte, oder auch auf die gescheiterte Gesellschaftsrevolution der Studentenbewegung allgemein.

Thomas hat eine Affäre mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau, einer Lichtinstallateurin mit dem Künstlernamen Iris. Er selbst hört nie auf, sich zu wundern, warum Iris ihn attraktiv findet, und kämpft mit seinem Älterwerden. Das Problem, dass Iris verheiratet ist, gerät (leider?) bald etwas in den Hintergrund. Hauptinhalt des Romans ist Thomas‘ Beschäftigung mit seiner Vergangenheit, ausgelöst vor allem dadurch, dass er die Totenrede für seinen früheren Bekannten Aschenberger halten soll. Aschenberger hatte einmal vor, die Siegessäule in Berlin zu sprengen, um ein Zeichen für die ruinöse Geschichte der Bundesrepublik und die notwendige Gesellschaftsveränderung zu setzen. Führt Thomas Aschenbergers gescheitertes Vorhaben zuende und stirbt in der Explosion? Oder setzen er und Iris Aschenbergers Idee um, indem sie Schriftzüge mit Licht auf die Siegessäule projezieren? Oder bleibt all das im Bereich der gedachten Überlegungen?

Thomas nennt sich selbst einen Sinnsucher – verständlich bei seinem Beruf, der ihn täglich mit der Frage nach dem Sinn und der Sinnlosigkeit des Lebens konfrontiert. Ebenso beschäftigt ihn die Frage, warum die von der Studentenbewegung und ähnlichen revolutionären Strömungen angestrebten Veränderungen im Sand verliefen, warum vor allem ihre Träger, die Menschen selbst, sich dahingehend veränderten, dass sie ihre Ideale aus den Augen verloren, Kompromisse machten, nur noch an ihrem eigenen, privaten Leben Interesse hatten und letztlich vielleicht sogar die Fähigkeit zu weinen verloren haben.

»Rot« bietet auch interessante Überlegungen über seine titelgebende Farbe, über die Thomas einen Essay schreiben will, die Farbe der Revolution und des Blutes, und über Licht, das Farben erst sichtbar macht. Es ist aber wohl vor allem ein Buch über gescheiterte Existenzen.

Uwe Timm: Rot | Deutsch
Kiepenheuer & Witsch 2005 | 427 Seiten | Jetzt bestellen