Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig NächteReligion, eine mittelalterliche Form der Unvernunft, wird, wenn sie mit modernen Waffen kombiniert wird, zu einer echten Gefahr unserer Freiheiten. Derartiger religiöser Totalitarismus hat zu einer tödlichen Mutation im Herzen des Islam geführt und wir sehen heute die tragischen Folgen in Paris … (Salman Rushdie nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«)

Wie geht es einem Autor, der mit dem Erscheinen seines Buches auf der einen Seite eine Reihe von Protesten und Gewalttaten von Muslimen auslöst und zum anderen damit einen Welterfolg feiert? Wie lebt man siebzehn Jahre lang mit einem Todesurteil und der Tatsache, dass auf einen seit 1989 ein Kopfgeld ausgesetzt ist, das im Februar dieses Jahres zum wiederholten Male erhöht wurde?

Salman Rushdie schreibt Geschichten, pardon, Märchen. Die sind besser denn je. In seinem aktuellen Werk »Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte« scheint seine Fabulierlust schier mit ihm durchzugehen. Was liegt näher, als sich das moderne Märchen mit seinen unzähligen »Geschichten in der Geschichte« vorlesen zu lassen. Bis zum letzten Satz zieht es den Hörer abwechselnd in die Märchenwelt und wieder zurück in die Wirklichkeit. Dafür sorgt Sprecher Simon Jäger in der Produktion vom Hörverlag mit seinem einfühlsamen wie ausdrucksvollen Lese-Stil, der nicht nur unterhält, sondern derart mitreißt, dass man ganze elf Stunden und neunundfünfzig Minuten bei der Stange bleibt.

Das Neuzeit-Märchen hat es in sich; nicht nur wegen seiner Länge. In den 1001 Nächten wimmelt es nur so vor Dschinns und Dschinnyas. Zum Ende des Kalifats verliebt sich die Dschinnya-Prinzessin Dunja in den Philosophen Ibn Ruschd und zeugt mit ihm eine unzählige Kinderschar. Noch im Grab streitet der vermeintliche Gottesfeind Ruschd mit seinem Widersacher, dem tiefgläubigen islamischen Philosophen Ghazali. Dunja gleitet durch einen Schlitz in der Welt zurück nach Peristan. Dort will sie Ibn Ruschds Bitte nachkommen, ihre verstreute Familie zu vereinen und ihr zu helfen, in der drohenden Weltkatastrophe das Schlimmste zu verhindern. Auch in der Welt der Dschinns führt der eine oder andere nicht immer Gutes im Schilde.

Rushdie bedient sich ungezählter Ereignisse und Metaphern, um das Chaos der Welt sichtbar zu machen. Dabei beeindruckt die Lebensgeschichte von Gärtner Mr. Geronimo den Hörer am meisten, muss er sich doch mit vielen Schicksalsschlägen auseinandersetzen. Dass er anfangs nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebt, scheint dabei noch wie ein geringfügiges Hindernis. Während sich der Terror auf der ganzen Welt ausbreitet, beginnen Dunja und ihre Nachkommen, die Welt zu retten. Ob und wie ihnen das gelingt, setzt Simon Jäger mit feinen Farbnuancen in seiner Stimme um. Das hilft dem Hörer über die eine oder andere ausschweifende Schilderung der Welt der Dschinns hinweg.

Salman Rushdie überzieht seine Parabel über die Lage der Welt schwindelerregend. Übersetzerin Sigrid Ruschmeier lässt die ganze Farbenpracht seiner Sprache auch im Deutschen aufleuchten. Der Zuhörer vergnügt sich an herrlich ironischen Seitenhieben und die Kraft, die von Rushdies Fabulierkunst ausgeht. Er erzählt sein XXL-Märchen temporeich und komisch und lässt des Hörers Phantasie blühen. Inwieweit der Parallelen zur Gegenwart herstellt, bleibt ihm überlassen. Ganz große Kunst!

Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte
Deutsch von Sigrid Ruschmeier | Gelesen von Simon Jäger
Der Hörverlag 2015 | Jetzt bestellen