Roger Willemsen plante ein Buch mit dem Titel »Wer wir waren« zu schreiben, doch dieses Buch ist aufgrund seines Todes im Februar 2016 nie erschienen. Was jedoch blieb, war eine Zukunftsrede, die er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt gehalten hat. Diese Rede lässt nur erahnen, welche Wege er eingeschlagen hätte und lässt sich doch als seine letzte Botschaft lesen.

Auf wenigen Seiten nimmt Willemsen die heutige Gesellschaft auseinander und kritisiert sie für ihre Ignoranz und Kurzsichtigkeit. Den meisten Menschen sind die großen Probleme unserer Zeit bewusst, allen voran die Klimakrise, und doch wird diese dramatische Entwicklung oftmals nur mit einem Schulterzucken quittiert oder es werden Ausflüchte in wirren Verschwörungstheorien gesucht. Die Fakten sind da, doch es folgt kein Handeln.

»Immer mehr Menschen« flunkert uns vor, die Zeit bewege sich linear, konsequent, einer inneren Logik folgend, dabei finden viele Prozesse des Gemeinschaftslebens zirkulär statt, widersprüchlich, launisch, modisch, impulsiv, und eben das bindet unsere Aufmerksamkeit, während sich die Entwicklung der Lebensräume, des Klimas, der ökologischen Bedingungen stetig und linear beschreiben lässt und uns auch deshalb langweilt.

Willemsen möchte die Menschen aufrütteln, sie von ihrer Gleichgültigkeit befreien und Bewusstsein schaffen. Er stört sich an einer Welt, die immer mehr an Geschwindigkeit zunimmt und ihren Bewohner*innen, die mit diesem Tempo nicht mithalten können und wollen. Die Rede ist eine Abrechnung, all sein Frust über die Entwicklung der Gesellschaft entlädt sich in ihr – 64 Seiten Wut, Trauer und Resigantion. Trotzdem ist es kein emotionsgeleiteter Text. Willemsen fördert scharfe Analysen zu Tage und trifft die Probleme auf den Punkt. So befreiend es gewesen sein muss, den Text zu schreiben, genauso befreiend ist es, ihn zu lesen. Jede Seite bringt neue Thesen mit sich, die einen entweder heftig mit dem Kopf nicken lassen oder zum Nachdenken anregen.

Das Individuum blies sich auf in nie da gewesener, nie möglich erschienener Datenfülle aus dem Einzelleben, das bald ein einziges großes, gleichgeordnetes Massenleben war, das sich in Massenchoreographien durch die Städte wälzte. Und während sich all dies vollzog, wurde das eigene Ich erreicht von einer Müdigkeit, einem Welken, einem Überdruss an sich selbst, dem es die letzten Selfies ohnmächtig hinterherwarf.

Was jedoch stört, ist die von Willemsen unterstellte Allgemeingültigkeit seiner Rede. Durchgängig verwendet er das Pronomen »wir«, doch wen meint er damit? Alle Menschen dieses Planeten? Alle, die in der Lage sind, diesen Text zu lesen? Es bleibt unklar. Impliziert wird hierdurch jedoch eine Mitschuldigkeit der Leser*innen, die sicherlich nicht alle im gleichen Maße betrifft. Gleichzeitig neigt der Text nicht nur zur Zukunftskritik, sondern auch in Ansätzen zur Zukunftsverweigerung. Moderne Technik und das Internet werden pauschal angegriffen. Die Existenz negativer Konsequenzen steht dabei außer Frage, doch an manchen Stellen fehlt die Differenzierung, denn vielleicht ist auch nicht alles schlecht.

»Die meisten Menschen haben kein moralisches Verhältnis zur Zukunft«, schreibt Willemsen, doch sein insgesamt sehr lesenwerter Text appelliert an das Verantwortungsgefühl. Er ist zugleich Anklage, als auch Aufforderung. Willemsen hat sein Leben gelebt, jetzt liegt es an den Anderen aufzustehen und zu handeln.

Roger Willemsen: Wer wir waren | Deutsch
S. Fischer 2016 | 64 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen