Regina Käsmayr: StromEs gibt in der Psychologie die Theorie, dass im Falle einer Katastrophe nur drei Prozent der Menschen einen kühlen Kopf bewahren. Alle anderen verfallen in Panik. Diese drei Prozent können sich in Extremsituationen entweder zu Helden oder zu Mördern entwickeln.

»Strom« trägt den Untertitel »ein schwäbischer Krimi«, bietet aber mehr als ein typischer Lokalkrimi, nämlich eine ergreifende Rachegeschichte, die ihren Ursprung in Rassismus und nationalsozialistischem Gedankengut hat, und das alles vor dem Setting eines Reiterhofes im Augsburger Umland. Hier wird an einem eiskalten Wintermorgen der Augsburger NPD-Vorsitzende Werner Holland tot in der Führanlage der »Crazy Horse Ranch« aufgefunden.

Eine Führanlage besteht aus durch Gitter voneinander abgetrennten Abteilen, die von einem Motor auf einer eingezäunten Kreisspur bewegt werden, mit dem Zweck, dass die Pferde in den Abteilen sich ebenfalls bewegen. Da Pferde von Natur aus eher faul sind und auch mal gerne einfach stehen bleiben, bietet eine Standardführanlage die Möglichkeit, die Gitter zwischen den Abteilen unter Strom zu setzen – normalerweise nicht stärker als der in einem durchschnittlichen Weidezaun, doch in diesem Fall auf eine tödliche Art umgekoppelt. Der NPD-Vorsitzende wird an ein Gitter der Führanlage gebunden und mit gefesselten Beinen gefunden, aber nicht zu Tode geschleift, sondern durch Strom getötet.

Er ist zugleich der Ex-Mann der Besitzerin der Ranch, Petra. Sie lebt dort zusammen mit der Reitlehrerin Lola, ihrer Tochter Franzi, der Magisterstudentin und Umwelt- sowie politischen Aktivistin Tanja und Petras Sohn Jonas (der sich als Alleinerbe von Hollands Vermögen herausstellt) in einer Art Wohngemeinschaft.

Im Dorf sind die Bewohner der Ranch im Gegensatz zu dem Ermordeten nicht sonderlich beliebt: Die Einheimischen munkeln, dass die Frauen alle lesbisch wären, und in der Tat sehen zumindest Petra und Lola Männer durch eine ähnlich vorurteilsbelastete Brille wie alle anderen Gruppierungen sich gegenseitig. Der ermittelnde Kommissar, Tarek Breitner, hat als Halb-Türke und Mann einen gleich zweifach schweren Stand bei der ländlichen Bevölkerung und der WG. Nicht nur gerät er im Lauf seiner Ermittlungen selbst in Lebensgefahr, er verliebt sich auch noch in die Hauptverdächtige und zieht seine Ex-Frau und Tochter mit hinein.

In der Mordnacht brennt außerdem ein Bauernhof ab, den die Nazis als Treffpunkt nutzten. Die Dorfbewohner schweigen hartnäckig, die Reitschüler kommen nicht mehr zum Unterricht und treiben den sowieso schon finanziell angeschlagenen Reiterhof weiter in die Krise. Dann taucht auch noch Lolas Onkel Martin auf, der das Arsenal sowieso schon hochinteressanter Figuren um einen schizophrenen Verschwörungstheoretiker bereichert.

Unter der scheinbar friedlichen Oberfläche der ländlichen Idylle brodelt es vor Hass und Gewalt, die sich gegen Ende des Romans gewitterartig entlädt. Auf gewagte aber gelungene, ernste und doch humorvolle, bisweilen fast zynische Art, dramatisiert die Autorin die Konflikte zwischen den verschiedenen politischen und kulturellen Gruppierungen, lässt den Kommissar zahlreichen falschen Fährten nachgehen und hält es bis zum Schluss spannend. Wie so oft liegt der Schlüssel zum Verbrechen in der Vergangenheit. Beim Finale, das nichts für empfindliche Leser ist, entwickeln sich dann einige Helden zu Mördern und Mörder zu Helden.

Regina Käsmayr: Strom | Deutsch
Shaker Media 2008 | 350 Seiten | Jetzt bestellen