Patrick deWitt: Der Diener, die Dame, das Dorf und die DiebeLucy betrachtete das Dorf Bury, das in der Senke des Tales ruhte oder sich, wie er dachte, Strandgut gleich dort angehäuft hatte. Es war ein malerischer Ort, und doch – wenn sein Blick nun über den dicht gedrängten Weiler schweifte, empfand er ein Gefühl der Niederlage, der vagen Abscheu.

War er hier jemals etwas anderes als ein Außenseiter gewesen? Die Antwort lautete: Nein. An einem Ort, der dafür berühmt war, grobschlächtige Hünen hervorzubringen, stellte Lucy ein vergleichsweise minderwertiges Exemplar dar. Er konnte nicht tanzen, vertrug keinen Schnaps, hatte keinerlei Ambitionen, Bauer zu werden, hatte nie enge Freunde gehabt, und keine der ortsansässigen Frauen fand ihn auch nur einer Bemerkung wert, von Zuneigung ganz zu schweigen, bis auf Marina, und die war eine allzu kurze Ausnahme gewesen.

Lucien Minor, genannt Lucy, ist ein Außenseiter in seinem verschlafenen Dorf. Er hat keine Freunde und selbst seine Eltern zeigen kaum Interesse an ihm. Der blasse, schwächliche Junge besitzt nur ein Talent und das ist das Lügen.

Eines Tages erhält er das Angebot für den Posten des Unteroberhaushofmeisters auf dem Schloss von Baron von Aux. Lucy begegnet seinem neuen Arbeitgeber nicht, der sich im Verborgenen hält. Dafür erfährt er vom rätselhaften Verschwinden seines Vorgängers Broom und lernt die schöne Klara kennen. Als er dann auch noch dringend geraten bekommt, in der Nacht seine Kammer abzuschließen, wenn ihm sein Leben lieb ist, ahnt er, dass die neue Stellung doch nicht so verlockend ist, wie sie auf den ersten Blick wirkte.

Patrick deWitts neuer Roman ist ein schräges Märchen. Man erfährt weder den Handlungsort noch die Handlungszeit, die Geschichte könnte überall und jederzeit spielen. Dies ist am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig, aber DeWitt hat es schon in seinem Erstling »Die Sisters Brothers« dem Leser nicht immer bequem eingerichtet.

Sein neues Werk kann dem Debüt nicht ganz das Wasser reichen, ist aber eine schön abgedrehte Lektüre, abseits der ausgetretenen Pfade. Schwarzen Humor und exzentrische Figuren gibt es hier im Überfluss. Man darf schon jetzt auf sein nächstes Werk gespannt sein.

Patrick deWitt: Der Diener, die Dame, das Dorf und die Diebe | Deutsch von Jörn Ingwersen
Manhattan 2016 | 352 Seiten | Jetzt bestellen