Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mirDie Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, spielt in der Weltmetropole Istanbul. Sie beschreibt den Lebensweg des Mevlut Karatas, der eng mit der Entwicklung der Stadt verbunden ist. Ende der 1960er Jahre zieht er aus seinem Dorf zu seinem Vater in der Stadt und hilft ihm beim Boza-Verkauf. Nach und nach lernt er die Straßen der Stadt sowie ihre Bewohner kennen und lieben. Auf der Hochzeit seines Cousins verliebt er sich in die Augen eines Mädchens und beginnt, ihr Briefe zu schreiben. Als er nach einigen Jahren beschließt, sie zu entführen und zu heiraten, stellt sich jedoch heraus, dass er ausgetrickst worden ist und man ihm die Schwester des Mädchens zur Hand gegeben hat. Trotz dieser für ihn unglücklichen Entwicklung verliebt er sich sehr in die Schwester und baut mit ihr in Istanbul ein Leben auf.

Der Roman begleitet zugleich das Leben Mevluts und seiner Familie als auch die jahrzehntelange Veränderung Istanbuls. So kommt nicht nur der Protagonist selbst zu Wort, sondern auch seine Freunde, seine Familie und Bekannten, die alle ihre ganz eigene Perspektive auf die Geschichte mitbringen. Was jedoch über all die Jahre gleich bleibt, ist, dass Mevlut jeden Abend sein Boza verkauft. Das türkische Nationalgetränk scheint das einzig Unveränderliche zu sein – ein Teil Geschichte der Stadt, an den Mevlut sich klammert, der oft glaubt, im Strudel der Ereignisse unterzugehen. Dieser Hang zur Nostalgie sowie die Bescheidenheit und Offenheit machen Mevlut zu einem Protagonisten, mit dem man gern durch die Straßen Istanbuls streift und sich von der Stadt in den Bann schlagen lässt.

Die Wucht, die von der Stadt ausging, die furchteinflößende Wirklichkeit, die Wildheit, ließen selbst einen gestandenen Mann wie Mevlut an eine harte Mauer denken. Die Zehntausende von Fenstern darauf sahen Mevlut an wie lauter Augen. Die morgens noch dunklen Augen änderten im Verlauf des Tages ihre Farbe und abends ließen sie die Nacht über Istanbul fast taghell leuchten. Als Junge hatte Mevlut gern von weitem auf die Lichter der Stadt geschaut, denn das hatte etwas Verzauberndes an sich, etwas zugleich Schauriges und Schönes. Mevlut schreckte vor der Stadt zurück und doch wollte er sich in den vor Augen wimmelnden Häuserwald hineinstürzen.

Orhan Pamuk gewährt wertvolle Einblicke in das Leben einer Stadt. Man hat die vielfältigsten Bilder von unterschiedlichen Orten im Kopf, kann sich die überfüllten Gassen vorstellen und hört dabei Mevluts Boza-Ruf, mit dem er jeden Abend durch die Straßen zieht. Die Anonymität der Großstadt ist ein wiederkehrendes Motiv, das nicht nur auf Istanbul abzielt, sondern auch auf die Anonymität der eigenen Person, die sich im Titel des Buches und natürlich in Mevluts Gedanken wiederfindet. Dabei gewinnt man schnell den Eindruck, dass sich der Protagonist in einem ständigen Dialog mit der Stadt befindet und ihr selbst bestimmte Charakterzüge zuschreibt.

Seit vierzig Jahren sandte die Stadt ihm Zeichen und Worte, und wie schon als Junge fühlte Mevlut in sich den Drang, darauf auch eine Antwort zu geben.

»Diese Fremdheit in mir« lässt sich definitiv weiterempfehlen. Es ist ein Buch, für das man einige Zeit braucht, und erst nach und nach macht man sich mit den einzelnen Charakteren bekannt. Es bietet einen guten Einblick in eine andere Kultur und trotzdem fühlen die Menschen dort die gleiche Einsamkeit, die wir alle in uns tragen.

Der Autor hält der Stadt und den Menschen einen Spiegel vor und deckt damit auch unerfreuliche Dinge auf, wie beispielsweise die untergeordnete Rolle der Frau, die an einigen Stellen zum Tragen kommt. Es ist ein facettenreicher Roman und Mevluts Träume und Erlebnisse über Jahre zu verfolgen, macht Spaß und bewegt.

Die Tiefe des Stadtlebens kommt von der Tiefe all dessen, was wir verbergen.

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir | Deutsch von Gerhard Meier
Hanser 2016 | 592 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen