Noah Hawley: Der Vater des AttentätersWir sehen die Vergangenheit durch das Prisma unserer Wahrnehmung. Wenn einem Menschen vorgeworfen wird, ein Verbrechen begangen zu haben, sucht man sein Leben nach entsprechenden Mustern ab. Vorfälle, die einem bis dahin bedeutungslos erschienen sind, spielen mit einem Mal eine Rolle.

Paul Allen, ein erfolgreicher Rheumatologe, kommt an einem ganz normalen Arbeitstag nach Hause und sieht im Fernsehen, dass sein Sohn Daniel aus seiner ersten Ehe den Präsidentschaftskandidat der Demokraten erschossen hat. Paul hatte Daniels Mutter, seine erste Ehefrau, verlassen, als Daniel sieben Jahre alt war. Daniel wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, während sein Vater ans andere Ende der USA, die Ostküste, zieht, dort ein zweites Mal heiratet und zwei weitere Söhne hat. Daniel besucht seinen Vater in den Feiertagen und Ferien und lebt, als er fünfzehn ist, ein Jahr bei Pauls neuer Familie. Danach hört sein Vater nur noch sporadisch von ihm, erfährt, dass er das College abgebrochen hat und ziellos mit dem Auto durch die USA fährt – bis zu jenem Abend, an dem Daniel, inzwischen 20, das Attentat begeht.

Bevor Paul Zeit hat, darauf zu reagieren, steht die Polizei vor der Tür und nimmt ihn mit. Sein Sohn hat bei dem Attentat selbst eine Kugel ins Bein bekommen, und nur aufgrund seiner guten Anwälte und heftigen Proteste darf Paul überhaupt für zehn Minuten im Krankenhaus mit seinem Sohn sprechen. Er kann nicht glauben, dass sein Sohn den Politiker wirklich ermordet hat und hält ihn für das Opfer einer Verschwörung. Daniel selbst sagt jedoch nichts dazu, ob er die Tat begangen hat oder nicht.

Für Paul beginnt eine verzweifelte Suche nach Beweisen für Daniels Unschuld. Er stellt fest, dass er eigentlich nicht viel über das Leben seines Sohns weiß, ihn kaum noch kennt. Er versucht, Daniels Leben, insbesondere das letzte Jahr vor dem Attentat, seine Gefühlswelt und seine Erlebnisse zu rekonstruieren, um irgendetwas zu finden, was den Mord erklären oder widerlegen könnte. Gleichzeitig recherchiert er Details über alle möglichen anderen amerikanischen Attentäter – über die Kennedy Mörder, den Unabomber, das Columbine Highschool Massaker, Timothy McVeigh – und sucht nach Parallelen zu seinem Sohn, die ihm sein Verhalten erklären könnten.

Dabei wird er unweigerlich mit seiner eigenen Schuld als Vater konfrontiert, der sich nicht sonderlich intensiv um sein Scheidungskind gekümmert hat. Er fragt sich, ob er und Daniels Mutter die Hauptschuld am Werdegang ihres Kindes haben, oder ob Daniel auch unter anderen Familienverhältnissen zu demselben Erwachsenen geworden wäre.

Pauls Beschäftigung mit Daniel wird zu einer Obsession, über der er seine zweite Familie und seine beiden anderen Söhne nicht nur vernachlässigt, sondern auch betrügt, weil er seine Recherchen wegen der Proteste seiner zweiten Frau nur noch heimlich betreiben kann. Als »Vater des Attentäters« wird Paul mit seiner Familie aus der bürgerlichen Gemeinschaft ihres Heimatorts ausgestoßen. Sie ziehen nach Colorado, in die Nähe des Gefängnisses, in dem Daniel auf seine Hinrichtung wartet, und »fangen ein neues Leben an«, ein Leben, in dem Paul den liebevollen Ehemann und Vater nur mehr spielt und fast nichts mehr von seinem früheren Ich übrig ist.

»Der Vater des Attentäters« ist ein von der ersten bis zur letzten Seite extrem spannendes und emotional aufrührendes Buch, das sich weigert, dem Leser einfache Antworten und Begründungen zu liefern, ohne jedoch dabei einfach nur offene Fragen in den Raum zu stellen.

Noah Hawley: Der Vater des Attentäters | Deutsch von Werner Löcher-Lawrence
Nagel & Kimche 2014 | 400 Seiten | Jetzt bestellen