Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute»Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie, sagte ich. Nicht voller Wut. Voller Wahrheit. Wut hatte ich hinter mir gelassen. Meistens zumindest. Nun sprach ich nur noch aus, was sowieso alle dachten. Klar und ruhig, laut und deutlich, ohne Wenn, ohne Aber: Ich hasste meine Mutter.«

Thene hat ein wohl außergewöhnliches Familienleben. Da wäre zum einen ihre oben erwähnte Mutter: Punkerin, Sammlerin von Sexspielzeugen und schrägen Beziehungen, die für jeden besser sorgen kann als für ihre eigenen Kinder und ausgestattet ist mit der ausgeprägten Fähigkeit zu provozieren. Zum anderen ihr Vater: Lebt nach einem späten Coming-Out mit seinem Freund zusammen (laut Thene der einzig Normale in der Familie) und schwebt mit seinem Kopf in den Wolken. Und obendrauf eine exzentrische Großmutter, eine weitere lesbische, dem Akohol verfallene Großmutter, einen magischen Bruder und jede Menge zusätzliche Anhängsel der Sippschaft. Für Thene der ganz normale Wahnsinn.

Ihre Gegenstücke dazu sind ihr Oxford-Studium und eine Lichtung im Odenwald – der »Schlechte Weg« -, die zu ihrem inneren Frieden beitragen. Als ihre Graduation in Oxford stattfindet, überstürzen sich die Ereignisse. Ihre Mutter war über die Autobahn gelaufen und wurde dabei von einem LKW erfasst. Thene behält in dem Familienchaos, das plötzlich um sie auszubrechen scheint, als einzige die Nerven, wie es nur jemand kann, der sein ganzes Leben lang an Schicksalsschläge in der Familie gewöhnt wurde.

Das Buch ist gekennzeichnet durch einen skurrilen Humor, passend zur Familie der Protagonistin. Diese versucht, wie nahezu jeder andere junge Mensch auch, gegen ihre Verwandtschaft zu rebellieren, doch da die meisten ausgefallenen Rollen bereits vergeben sind, äußert sich ihre Rebellion in einem Oxford-Studium, Verantwortungsbewusstsein und resignierter Abgeklärtheit.

Wer Nele Pollatscheks »Das Unglück anderer Leute« schnell in die Schublade »Unterhaltsames Familiendrama« steckt, sollte bis zum Ende damit warten. Denn das kommt nicht nur völlig überraschend, sondern nimmt auch unerwartet bizarre Züge an.

Die Wahrscheinlichkeit, dass du erst eine Sechs würfelst und dann nochmal eine Sechs würfelst, ist genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit jeder anderen spezifischen Kombination. Also 6, dann 6, dann 6 ist genauso wahrscheinlich wie 6, dann 1, dann 4 und trotzdem sind Menschen verblüfft, wenn sie dreimal die 6 würfeln, aber nicht, wenn sie 6, 1, 4 würfeln. Obwohl beides genau gleich wahrscheinlich ist. Weil sie eben nur dieses eine Muster erkennen und das andere als Zufall abschreiben (…). »Kurzum, Menschen sind doof«, fasste mein Vater zusammen, dem das alles zu abstrakt war.

»Das Unglück anderer Leute« erinnert an die teils symphatischen, teils nervtötenden Macken der eigenen Verwandtschaft. Mit Wortwitz und großartigem Sprachgebrauch tastet sich Nele Pollatschek an das Phänomen »Familie« heran, bringt einem zum Lachen und zum Grübeln. Sie karikiert die Absurditäten des Familienlebens und sorgt für ein Wiedererkennen. Ein Familienroman der besonderen Art!

Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute | Deutsch
Galiani 2016 | 224 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen