John le Carré: MarionettenDieser Lift hält unterwegs nicht an. Er hat keine Knöpfe, keinen Spiegel, kein Sichtfenster. Er riecht nach Diesel und nach Äckern. Es ist ein Viehlift. Er riecht wie der Sportplatz deiner Schule im Herbst. Erörtern sie.

Wer in diesem Lift fährt, tut das nicht aus freien Stücken. Du stehst zwischen zwei Frauen, die dich entführt haben, in dem sie so taten, als wärt ihr Freundinnen. Zu ihnen stieß etwas später eine dritte Frau, die sich nicht als deine Freundin geriert hat. Keine von ihnen hat sich dir vorgestellt. Keine hat in deiner Hörweite irgendeinen Namen benutzt außer deinem eigenen.

Niemand, nicht einmal Issa, kann dir schildern, was für ein Gefühl das ist, der Freiheit beraubt zu werden, aber allmählich geht es dir auf.
Du bist eine Juristin, der allmählich ein Licht aufgeht.

Eigentlich lese ich keine Agenten-Thriller, aber »Marionetten« ist ein tolles Buch! Von einem Profi geschrieben, der genau weiß, worauf es ankommt.

Kurz die Story: Issa, ein gefolterter, geflohener tschetschenischer Moslem reist illegal nach Deutschland ein, wird von einer jungen Anwältin ohne Erfahrung gegenüber einem Privatbankier vertreten, der das Erbe des Flüchtlings, schmutziges Geld aus Russland, verwaltet. Gleich nach der Einreise gerät der Mann in das Fadenkreuz verschiedener Geheimdienste, die sich in ihn verbeißen wie eine Meute Terrier in einen angeschossenen Hasen. Allerdings soll der kleine Hase nicht als schnöde Beute dienen – er selber soll als Luder benutzt werden. Ein Katz und Maus Spiel aus Lügen, Intrigen, Erpressung und Gewalt beginnt, ein Spiel, das keine Macht der Welt mehr zu stoppen vermag. Denn letztendlich geht es um Glaube und Wahrheit – und in diesen Punkten ist die Menschheit bekanntermaßen intolerant bis aufs Blut.

John le Carré hat das Dahinschwinden der Menschlichkeit als Grundlage für seinen neuen Thriller gewählt. Und auf dieser Grundlage lassen sich heutzutage allemal spannende, aber in der Sache eben leider auch deprimierende Geschichten erzählen. Die Story überzeugt neben dem Thema auch durch ihre Glaubwürdigkeit. Keine der vielen Figuren ist überzeichnet oder zu statisch dargestellt. Jeder Satz ist präzise und ohne überflüssige Floskeln. Ein gutes Buch. Im Vergleich mit den eher kläglichen Geschichten seiner jüngeren Kollegen wie zum Beispiel Jean-Christophe Grangé oder Sebastian Fitzek ist der Roman von John le Carré hervorragende Literatur.

Der Autor ist fast 80 Jahre alt, aber er schreibt keineswegs altbacken. Seine Sprache ist exakt, und er beschreibt Situationen und Gefühle in wenigen treffenden Worten, fast schon wie ein Lyriker. Er erzählt am Puls der Zeit und modern. Er lässt die Akteure modernste Technik benutzen – weil sie da ist, nicht weil er sie erwähnt haben möchte. Weil le Carré als ehemaliger Spion das Metier kennt, über das er schreibt, und weil er ein hervorragender Rechercheur ist, kann man sich gut vorstellen, dass die Geheimdienste erschreckenderweise genau so arbeiten, wie er es schildert.

Ob so etwas unter dem neuen US-Präsidenten Barack Obama nicht mehr passieren wird? Warten wir es ab und lesen wir derweil »Marionetten«.

John le Carré: Marionetten | Deutsch von Sabine Roth und Regina Rawlinson
Ullstein 2008 | 366 Seiten | Jetzt bestellen