Isabel Allende: Das GeisterhausAn dem Tag, an dem mein Großvater Esteban Garcías Großmutter Pancha in den Büschen am Fluß vergewaltigte, fügte er ein neues Glied an eine Kette von Ereignissen, die eintreffen mußten. Später wiederholte der Enkel der vergewaltigten Frau die Tat an der Enkelin des Vergewaltigers, und vielleicht wird in vierzig Jahren mein Enkel Esteban Garcías Enkelin in die Sträucher am Fluß zerren, und so fort in künftigen Jahrhunderten, in einer endlosen Geschichte von Schmerz, Blut und Liebe.

In Allendes Roman »Das Geisterhaus« wird über mehrere Generationen hinweg die Geschichte einer Familie verfolgt, die vor allem von den politischen Unruhen Chiles im 20. Jahrhundert geprägt wird. Allendes Chile hat sehr viel mit den Porträts Südamerikas gemeinsam, wie man es aus anderen literarischen Werken kennt, wie etwa Joseph Conrads »Nostromo«, Malcolm Lowrys »Under the Volcano« oder auch Cormac McCarthys »The Crossing«, nämlich als ein Land, in dem in einem Teufelskreis der Gewalt eine ungerechte Regierung die nächste ablöst, wobei sich die Rollen der Unterdrücker und der Unterdrückten vertauschen mögen, die Gesamtsituation jedoch nie eindeutig besser zu werden scheint, so dass sich die gegensätzlichen politischen Strömungen zur Austauschbarkeit verurteilen.

Die Wiederholungen mit vertauschten Rollen, die das politische Geschehen kennzeichnen, finden ihre Entsprechung in den parallelen oder spiegelverkehrten Konstellationen der Figuren zueinander. Zu Beginn der Geschichte zum Beispiel wird Esteban Trueba, das Familienoberhaupt, an der Heirat mit seiner ersten Liebe Rosa durch deren unerwarteten Tod gehindert und heiratet stattdessen ihre jüngere Schwester Clara. Später verliebt sich Estebans Tochter Blanca in den Sohn seines Verwalters, Pedro Tercero García, dessen Vater, Pedro Segundo García, sich in ihre Mutter Clara verliebt. Blancas Bruder verliebt sich in Amanda, die Geliebte seines Zwillingsbruders, während seine Nichte Alba, die Tochter Blancas, sich in Amandas Bruder Miguel verliebt. Dieses Muster der Wiederholung mit leichten Variationen und sozusagen geänderten Vorzeichen setzt sich den ganzen Roman hindurch fort und findet selbst in kleinen Details wie den Namensähnlichkeiten der Figuren Ausdruck (die nummerierten Pedros, die identische Bedeutung der Namen Clara, Blanca, Alba), ohne dass der Realismus der Erzählung dadurch jemals unglaubwürdig wird.

Allende scheint es einerseits darum zu gehen, verhängnisvolle Ereignisse als durch eine Kausalkette bestimmt zu zeichnen, in der ein Ereignis das nächste relativ logisch und verständlich nach sich zieht, wobei allerdings aufgrund der unübersichtlichen und in eine lange Vergangenheit zurückreichenden Verwicklungen das einzelne Individuum unschuldig zum Opfer wird und sein Schicksal kaum beeinflussen kann. Obwohl daher durchaus Verständnis dafür geschaffen wird, wie das durch Unterdrückung und Ausbeutung verursachte Leid zu Rache, erneuter Unterdrückung und noch größerem Leid führt, wird mit einigen Figuren die optimistische Möglichkeit offengehalten, die Spirale der Gewalt zu unterbrechen, indem Hass durch Vergebung überwunden wird. In zwei parallelen Situationen, in denen ein Dialog mit vertauschten Rollen wortwörtlich wiederholt wird, retten sich zum Beispiel Esteban und Tercero das Leben, beide aus Liebe zu Blanca, die gleichzeitig der Hauptgrund für den Hass zwischen den beiden Männern ist (Esteban billigt die Beziehung aus Standesgründen lange Zeit nicht).

Der Titel »Das Geisterhaus« geht unter anderem darauf zurück, dass einige Frauenfiguren übersinnliche Kräfte haben, die ihnen erlauben, in die Zukunft zu sehen. Genauso wie das parallele Generationengeflecht, die Austauschbarkeit der politischen Linken und Rechten bezüglich ihres Terrors und die Tatsache, dass der erste und der letzte Satz des Romans identisch sind, dient das Motiv der Geister also dazu, die Gegenwärtigkeit des Zukünftigen und Vergangenen und damit den kreisartigen Wiederholungscharakter der Weltgeschichte zu unterstreichen.

Alba und zum geringeren Teil ihr Großvater Esteban sind die Erzähler dieser Geschichte, wobei sie sich wiederum der Aufzeichnungen Claras bedienen. Für Alba, die vermutlich mit der unter dem Terrorregime erlittenen Folter das schlimmste Schicksal unter den Familienmitgliedern trifft, ist das Schreiben der Weg zur Vergebung und das Mittel zum, wie sie selbst formuliert, Überleben des eigenen Ensetzens. Sie schwört der Rache ab und schreibt:

Ich will denken, dass mein Amt das Leben ist und meine Aufgabe nicht darin besteht, den Haß fortzusetzen, sondern nur, diese Seiten zu füllen, während ich auf die Rückkehr Miguels warte, … während ich darauf warte, dass bessere Zeiten kommen, und während ich das Geschöpf austrage, das in meinem Bauch lebt, Tochter so vieler Vergewaltigungen oder vielleicht Tochter Miguels, aber vor allem meine Tochter.

Isabel Allende: Das Geisterhaus | Deutsch von Anneliese Botond
Suhrkamp 2004 (30. Auflage) | 885 Seiten | Jetzt bestellen