Harry Crews: Der FluchUnd ich konnte nur versuchen, ihrem Vater zu erzählen, dass seine Kinder versuchten mich umzubringen. Am Abendbrottisch oder wenn er hereinkam, um uns einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, schüttelte ich meinen Kopf und versuchte mein Bestes um mit meinen Fingern etwas zu buchstabieren, das er verstehen konnte. Und er sagte zu seinen Kindern, »wenn ihr heute Nacht das Licht ausmacht, dann dankt Gott, geht auf die Knie und dankt Gott dafür, dass ihr normale menschliche Wesen seid.«

Als sie das Licht ausmachten, versuchten sie mich umzubringen.

Marvin Mollar hatte keine einfache Jugend, denn er wurde ohne Beine geboren und bewegt sich deshalb auf seinen Armen vorwärts, die gewaltige Ausmaße angenommen haben. Außerdem wurde er mit einem Loch im Gaumen geboren und kann deswegen nicht sprechen. Seine Eltern setzten ihn vor der Trainingshalle von Al Molarski aus, der sich dem Kleinen annahm und ihn trainierte. Bei einem Sturz verlor Marvin noch sein Gehör, aber er erlernte auch allerlei athletische Kunststücke, zeigte diese bei Auftritten vor Kindergruppen und verdiente sich so sein Geld.

Bei Al lebt Marvin zusammen mit einem wenig hellen Jungboxer namens Leroy und mit Pete, einem siebzigjährigen Preisboxer. Marvin hat eine wunderschöne Freundin namens Hester, die zu ihm in diese Gemeinschaft zieht. Durch ihre resolute und zupackende Art kann sie die Männer schnell für sich gewinnen. Sie macht sich unentbehrlich und besonders Al, der von sich gerne in der dritten Person spricht, hat ihrem Charme wenig entgegenzusetzen.

Al sah schließlich zu Leroy hinüber.

»Ganz recht, mein Sohn. Al’s Kopf ist von einem Auto überrollt worden. Einem Hudson Hornet. Deswegen hat er dieses Ohr hier.« Er berührt sich da, wo ihm an der Seite des Kopfes der Blumenkohl wuchs. Dann lächelte er Hester an. Er lächelte. Ich bin mir da nicht ganz sicher, aber ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Al Molarski lächeln sah.

Der ehemalige Junggesellenhaushalt verändert sich. Die Männer achten mehr auf ihr Äußeres und beginnen wieder zu trainieren. Das Gym wird gewinnorientierter, schafft Automaten für Kraftriegel und Handtücher an. Obwohl Hester den Laden schmeißt, aufräumt und kocht, gegenüber Marvin nicht mit sexuellen Gefälligkeiten geizt, ist dies natürlich nicht das Happy End. Marvin wird von Hesters Vater vor der Beziehung gewarnt, da seine Tochter sich schnell langweile und dann anfangen würde, seltsame Dinge zu tun. Aber er ist nicht bereit, sie aufzugeben, egal welches Ausmaß ihr Verhalten annimmt.

Dass die Geschichte tragisch enden würde, war abzusehen, aber wie es schließlich geschieht, das ist doch überraschend. Die Konsequenz und die Kaltblütigkeit, mit der der Autor die Geschichte beschließt, lassen den Leser sprachlos zurück.

Dann brüllte er in sein Mikrofon. Wir waren zu weit weg, und er hat rumgeschrien und ich konnte nicht erkennen, was er sagte, aber ich wusste, es ging um Al, und wie ich so im Sand neben seinen krampfadrigen Beinen saß, da wurde mir ein bisschen schlecht. Die Menge schob sich dichter zusammen. Das, was als nächstes geschah, ging so schnell wie eine Hinrichtung.

Vor Jahren fand ich in einem Sammelband eine Kurzgeschichte von Harry Crews, die mich begeisterte und sofort Lust auf mehr machte. Die Suche blieb recht erfolglos, denn bis auf eine zweite Kurzgeschichte in einer Krimi-Anthologie war nichts auf Deutsch zu finden. Umso erfreulicher, dass endlich ein Roman von ihm in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Original erschien 1974. Laut Klappentext soll es eine Verfilmung aus dem Jahr 2005 mit Harvey Keitel, Johnny Depp und Vanessa Paradis geben, aber dieses Projekt wurde wohl eingestellt.

»Der Fluch« zeigt die Gesellschaft ganz unten: ungeschönt, unsentimental, aber immer wieder anrührend. Da ist ganz viel Bukowski drin, zugleich erinnert Marvins Beziehung zu Hester an Philippe Djians »Betty Blue«. Die bloße Zahl der Schicksalsschläge, die Marvin ertragen muss, wirkt vielleicht etwas übertrieben und weniger hätten es sicher auch getan, ohne seine Leistung im täglichen Überlebenskampf zu schmälern. Andererseits sind viele tragische und/oder komische Szenen damit verbunden, von denen man keine einzige missen möchte.

»Der Fluch« ist hoffentlich nur die erste von vielen weiteren deutschen Veröffentlichungen dieses Autors.

Harry Crews: Der Fluch | Deutsch von Stefan Ehlert
Miranda 2006 | 210 Seiten | Jetzt bestellen