Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander WolfWorin lag das Verführerische gerade dieser Art des Verbrechens, unabhängig davon, wie es verstanden wurde und welche äußeren Gründe oder Impulse es veranlassten?

Der Ich-Erzähler erschießt als 16-Jähriger Soldat im russischen Bürgerkrieg in einem Zustand absoluter Übermüdung – er hat mehrere Tage und Nächte nicht geschlafen – einen anderen Mann und rettet dadurch sein eigenes Leben.

Obwohl er den Mann nicht gekannt hat und ihn gesetzlich betrachtet keine Schuld trifft, verfolgt ihn dieses Kriegserlebnis sein ganzes Leben. Er fühlt sich abgeschnitten von jeder Normalität und leidet unter Stimmungen und Zweifeln, mit denen er nicht zurechtkommt:

Ich wusste, dass eine wortlose, fast bewusstlose Erinnerung an den Krieg die meisten Menschen verfolgt, die ihn durchlebt haben, und in allen ist etwas zerbrochen für immer. Ich wusste von mir selbst, dass die normalen menschlichen Vorstellungen vom Wert des Lebens und von der Notwendigkeit der grundlegenden Moralgesetze – nicht töten, nicht rauben, nicht vergewaltigen, Mitleid haben –, dass sie sich nach dem Krieg zwar langsam in mir wiederhergestellt, ihre frühere Überzeugungskraft jedoch verloren hatten und nur noch ein theoretisches Moralsystem waren, mit dessen relativer Gültigkeit und Notwendigkeit ich prinzipiell einverstanden zu sein hatte. Die Gefühle, die ich dabei hätte haben müssen, die diese Gesetze erst hatten entstehen lassen, waren ausgebrannt durch den Krieg, es gab sie nicht mehr und nichts hatte sie ersetzt.

1936 in Paris findet der Erzähler in einem Buch das Kriegserlebnis, das sein Leben geprägt hat, so detailgetreu geschildert, dass es nur einen Schluss zulässt: Der Verfasser ist der Mann, auf den er damals geschossen hat, und er hat wider Erwarten überlebt. Der Erzähler setzt daraufhin alles daran, den Autor – Alexander Wolf – zu finden. Zuerst weiß er nicht, was er sich davon erhofft, doch dann erkennt er, dass Wolf für ihn die Erkenntnis verkörpert, dass er immer schon zum Töten bereit war – oder sich vielleicht sogar dazu hingezogen fühlt.

Einerseits empfindet der Erzähler deshalb Abscheu über sich selbst, aber nach langen Überlegungen gelingt es ihm zu klären, was die Faszination des Tötens für ihn ausmacht, nämlich »die Möglichkeit, für kurze Zeit stärker zu werden als Schicksal und Zufall«. Töten bedeutet für den Erzähler, dass er nicht mehr den unentwirrbaren und undurchsichtigen Verkettungen von Ursache und Wirkung, die alle Menschen auf der Welt verbinden und die jeden verzweifeln lassen, der nach Erklärungen sucht, ausgeliefert ist. Hat man das einmal erkannt, so der Erzähler, wird all das, was für normale Menschen den Sinn des Lebens ausmacht, unbedeutend und »phantomhaft«: »Alles ist ohnmächtig vor diesem kurzen Machtmoment des Tötens.«

Die Überlegungen und Gedanken des Erzählers lassen die teilweise sehr künstliche Handlung die meiste Zeit im Hintergrund bleiben: Er trifft zunächst den Verleger von Wolf, der sich aus Gründen, die nie aufgeklärt werden, Wolfs Tod wünscht, und begegnet einem Kriegsgefährten von Wolf, der ihm von seiner und Wolfs damaligen Geliebten erzählt. Außerdem trifft er eine weitere ehemalige Geliebte von Wolf bei einem Boxkampf, die zu seiner eigenen Geliebten wird und auf die Wolf am Ende des Romans schießt.

Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf | Deutsch von Rosemarie Tietze
Hanser 2012 | 192 Seiten | Jetzt bestellen