Frank Westerman: Das Schicksal der weißen PferdeDoch wenn Menschen so gut in der Lage waren, Tierarten nach Belieben zu manipulieren, warum liefen dann Versuche zur Verbesserung der menschlichen Rasse immer auf Mord und Totschlag hinaus?

In der Geschichtsschreibung hängt fast alles von der Perspektive ab. Frank Westerman, Journalist und Meister der literarischen Reportage, der zudem noch Agrarwissenschaften studiert hat, verfolgt in »Das Schicksal der weißen Pferde« die wechselvolle Geschichte einer Pferderasse: der Lippizaner. Das ist eine der ältesten gezüchteten Pferderassen der Welt, und es sind die Pferde, fast ausschließlich Schimmel, die in der Spanischen Hofreitschule in Wien eingesetzt werden.

Wer jetzt meint, »Das Schicksal der weißen Pferde« sei ein Pferdebuch, der irrt. Während Westerman der Geschichte der Lipizzaner nachgeht, beschäftigt er sich mit fundamentalen Fragen und fördert allerlei höchst interessante und eher unbekannte Fakten zutage, die teilweise kurios, teilweise erschreckend sind – von der Rolle der Nationalsozialisten in der deutschen Pferdezucht bis hin zur Rolle der Lipizzaner in den Balkankriegen.

Die Lippizaner gerieten nämlich immer wieder zwischen die Fronten nationaler Auseinandersetzungen. Im 16. Jahrhundert fingen die Habsburger an, sie aus spanischen Pferden zu züchten (daher der seltsame Name der eigentlich österreichischen Hofreitschule). Italiener, Österreicher, Tschechen, Böhmen, Deutsche, Amerikaner, Russen, Kroaten und Serben – sie alle haben sich im 20. Jahrhundert um die zahlenmäßig eher kleine Pferdezucht gestritten und in meist abenteuerlichen Aktionen versucht, sie in ihren Besitz zu bringen, hauptsächlich aus symbolischen Gründen. Eine Frage, der Westerman nachgeht, ist entsprechend, »was Menschen mit den Tieren zum Ausdruck bringen wollen, mit denen sie sich umgeben.«

Parallel zu den politischen Auseinandersetzungen, in die die Lippizaner verwickelt wurden, stellt Westerman die Geschichte der Wissenschaft der Genetik dar – von Mendel bis heute. Er geht dem Streit um Nature vs. Nurture nach – also der Frage, ob die Gene oder die Umweltbedingungen mehr Einfluss auf die Eigenschaften von Lebewesen haben – und erklärt, warum bestimmte Nationen an bestimmten Punkten in ihrer Geschichte jeweils die eine oder andere Theorie entschieden befürwortet haben. Dabei wirft er immer wieder ein unheimliches Licht auf Parallelen und Unterschiede zwischen der Tierzucht und verschiedenen Bestrebungen, den Menschen zu verbessern:

Die menschliche Rasse hat nicht nur die Funktion der Evolution ergründet, es ist ihr auch gelungen, deren Motor auseinanderzunehmen. Anschließend hat sie die Einzelteile zurechtgefeilt und wieder zusammengebaut, und jetzt düst sie auf diesem frisierten Moped herum – ohne Helm und von sich selbst überzeugt.

Westerman schreckt auch nicht davor zurück, politisch inkorrekte Fragen zu stellen, zum Beispiel über den Unterschied zwischen menschlichen Rassen, aber er tut es immer auf (selbst)kritische Art. Kein Wunder, dass er dabei irgendwann an den Punkt kommt, was den Menschen überhaupt vom Tier unterscheidet, und dass er öfter unangenehme Gefühle bei sich selbst feststellt:

Dies war nicht die erste Untersuchung eines Massengrabs im ehemaligen Jugoslawien, die ich sah, wohl aber die erste, bei der Pferde exhumiert wurden. … Ich bezweifle, dass der Bericht über die Hinrichtung von 264 Kroaten in einem Schweinemastbetrieb in der Nähe von Vucovar mich damals ähnlich hart getroffen hätte. Dieses Verbrechen … war größer und systematischer geplant, und dennoch hatte ich das unangenehme Gefühl, dass der Tod der Pferde mich tiefer berührte. Was steckte dahinter?

Während Westerman einerseits darlegt, wie verschiedene Länder eine Pferderasse für ihre nationalen politischen Interessen instrumentalisiert haben, zeigt er andererseits an einer Handvoll von Einzelschicksalen, wie die Pferdeleidenschaft einzelner sie in völlig verschiedenen Situationen dazu gebracht hat, überhaupt keine Rücksicht auf politische Gegebenheiten oder ihre eigenen politischen Überzeugungen zu nehmen und den Pferden zuliebe zu Mit- oder Überläufern zu werden:

Doch wie, wollte ich wissen, hatte es ihn dann zu den »Freunden der Spanischen Hofreitschule« verschlagen?

»Sie meinen: in diesen Monarchistenverein? «

Ich nickte – vielleicht etwas nachdrücklicher, als ich es gewollt hatte.

»Ich mag Pferde«, sagte er. »Mehr lässt sich dazu, glaube ich, nicht sagen.«

Dieser Aspekt ist mit der faszinierendste und unheimlichste an dem Buch. Am besten auf den Punkt bringt diese Verrücktheit der Pferdeliebhaber und das Unverständnis derer, die nicht davon befallen sind, ein Zitat aus dem Tagebuch des amerikanischen Generals Patton, nachdem er am Ende des Zweiten Weltkrieges einer Vorführung der Hofreitschule beigewohnt hatte:

Es erschien mir ziemlich bizarr, dass in einer Welt, die sich selbst zerfleischt, rund zwanzig Männer mittleren Alters und in guter körperlicher Verfassung all ihre Zeit und Energie darin investiert haben, Pferden ein paar Tricks beizubringen.

Alles in allem ein lesenswertes Buch auch für Leute, die nichts mit Pferden am Hut haben, schon allein wegen der ungewöhnlichen Perspektive auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Da verzeiht man Westerman auch gerne ein paar Irrtümer über Pferde, zum Beispiel seine Behauptung, dass die »Verdauung und der Stoffwechsel der meisten ›modernen‹ Pferde« auf Kraftfutter eingestellt seien, oder auch seine Befürchtung, dass Pferde es im Winter nicht ohne Stall aushalten.

Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte
des 20. Jahrhunderts
| Deutsch von Gerd Busse und Gregor Seferens
C.H. Beck 2012 | 287 Seiten | Jetzt bestellen