Fadhil al-Azzawi: Der Letzte der Engel»Ich bestehe darauf, dass ihr dieses Buch so bald wie möglich lest. Ich bin zufällig darauf gestoßen -, und es hat mich dermaßen beeindruckt, dass ich sofort an Hatchards geschrieben und zwei Dutzend bestellt habe. Ich habe mir vorgenommen, es jedem zu schenken, dem ich begegne.«
Francis Wyndham: (»Der andere Garten«)

Die Möglichkeiten, arabische Literatur in deutscher Übersetzung lesen zu können, sind begrenzt. Seit vergangenem Herbst ist die Auswahl um einen Autor reicher geworden. Der irakische Schriftsteller Fadhil al-Azzawi lebt seit 1977 im Exil in Berlin. Sein Roman »Der Letzte der Engel« entstand Ende der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und ist vor ein paar Monaten in der Übersetzung von Larissa Bender beim Schweizer Dörlemann Verlag erschienen.

Fadhil al-Azzawi nimmt den Leser mit in das Kirkuk der fünfziger und frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Stadt im Nordirak liegt bedrohlich nahe an den großen Ölfeldern. Sie beherbergte damals Araber, Juden, Kurden, assyrische Christen, Turkmenen und zählte damit zu den vielen multikulturellen Orten im Vorderen Orient. Im Mittelpunkt steht das sogenannte Chukor-Viertel, ein vergessener Stadtbezirk am Rand. Deren Einwohner plagen sich scheinbar nur mit Armut und Dämonen herum. Letztere heißen auch Dschinne und sind orientalische Geister, die den Menschen gern Streiche spielen. Sind sie etwa für die Einbrüche verantwortlich oder schüren den weit verbreiteten Aberglauben?

Multikulti birgt zahlreiche originelle wie dubiose Gestalten, deren Geschichten und ihre verhängnisvollen Schicksale. Fadhil al-Azzawi serviert sie dem Leser auf dem silbernen, reichlich verzierten Tablett à la Tausendundeiner Nacht. Er fabuliert ausschweifend, präsentiert die Geschichte in der Geschichte mit märchenhaften Details und übernatürlichen Handlungssträngen. Der Leser kann sich nie ganz sicher sein, ob er im Moment Satire, blühende Phantasie oder reine Poesie rezipiert. Larissa Bender gelingt es überzeugend, den durchgängig heiteren Grundton aufzunehmen und bis zum Ende widerzuspiegeln. Bei ignoranten Monarchen, die berechtigte Anliegen des Volkes kalt lassen, Gefahr durch Kommunisten, Putschversuchen und erfolglosen Streiks in den Ölfabriken ein anspruchsvolles Unternehmen.

Hamid Nylon wird von der britischen »Iraq Petroleum Company« entlassen, weil er die Frau seines Arbeitgebers mit einem Paar Nylonstrümpfen verführen will. Daher rührt auch sein Spitzname. Es folgen Demonstrationen gegen Hamids Entlassung, der junge König wird ermordet. Die Vertreibung der Engländer zieht sich bis in die Gegenwart hin, Putsch-Serien und Kriege ebenso. Der Leser nimmt an einer herrlich komischen Satire auf eine Revolution teil, dessen Anführer der selbst ernannte Oberst Hamid Nylon wird. Seiner Entschlossenheit steht der weise, besonnene und lebenserfahrene Chidr Musa entgegen, der sich vom geldgierigen Schafhändler zum selbstlosen verantwortungsbewussten Protagonisten entwickelt. Der siebenjährige Burhan Abdallah hat sich das Schreiben selbst beigebracht. Er begegnet in einer Kiste auf dem Dachboden seiner Eltern drei alten Männern, die in Hanfleinensäcken den Frühling mit sich führen. Wer will schon genau wissen, ob sie Engel, Geister oder die Seelen Verstorbener sind …

Während al-Azzawis abstruser und grausamer Geschichten versiegt das Leser-Lachen hin und wieder. Demonstranten jagen einem kopflos um sich schießenden Polizisten hinterher, der dabei einen schwarzhäutigen Friseur namens Qara Qol tötet. Als jemand in die Welt setzt, dass sein Geist in einer Lichtsäule zum Himmel aufgestiegen sei, verwandelt sich der Mann in einen Heiligen. Aus dem Heiligengrab entstehen eine Geschäftsidee und gleichzeitig das Ziel einer tragikomischen Schnitzeljagd. Spätestens als der Polizist den halbwüchsigen Söhnen Qara Qols in die Hände fällt, wacht man aus dem Tausend-und-eine-Nacht-Märchen-Traum auf. Von der grauenvollen Realität eingeholt, sieht der Leser die fürchterlichen Bilder eines totalitären islamistischen Staates vor Augen.

Burhan Abdallah kehrt am Ende nach 46 Jahren Exil noch einmal nach Kirkuk zurück, begleitet von zwei Visionen mit starker Symbolkraft: den endlich eingekehrten Frühling und den Weltuntergang.

Die Sicht auf den Nahen Osten scheint fünfhundert Seiten später ein wenig klarer geworden. Um sich in diese fremde Welt einzufühlen, braucht es weit mehr solcher Bücher.

Fadhil al-Azzawi: Der Letzte der Engel | Deutsch von Larissa Bender
Dörlemann 2014 | 520 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen