Dieter Wellershoff: Der LiebeswunschNie zuvor hatte sie daran gedacht zu heiraten, nicht, weil sie es ablehnte, sondern weil sie annahm, dies sei, wie das ganze übrige normale Leben, für sie nicht vorgesehen. Sie haderte nicht damit, sie litt nicht darunter, es war ihr nicht einmal deutlich bewusst. Ihr Leben hatte seit langem etwas Unfühlbares und Gleitendes angenommen. Zwar war ihr nicht alles leicht gemacht worden, schon gar nicht von Kindheit an. Es gab Widerstände, Einengungen, Enttäuschungen. Doch konnte sie nie wirklich glauben, dass sie gemeint war.

Anja, eine Literaturstudentin mit unabgeschlossener Magisterarbeit, hütet als Gelegenheitsjob das Haus des Ärzteehepaars Paul und Marlene, als diese in Urlaub fahren. Dort lernt sie Leonhard kennen, den Freund der beiden, und heiratet ihn, obwohl sie sich erst ein paar Wochen kennen. Hauptsächlich heiratet sie ihn, weil ihr kein Grund einfällt, warum sie es nicht tun sollte, und weil ihr Leben sowieso äußerst ziel- und planlos ist. Sie lebt sozusagen neben sich.

Später stellt sich heraus, dass Marlene früher mit Leonhard zusammen war und er und Paul beste Freunde waren. Eine Zeit lang hatten Marlene und Paul ein heimliches Verhältnis, dann verließ Paul auf Drängen von Marlene seine Familie (seine erste Ehefrau und zwei Kinder), um Marlene zu heiraten. Marlene trennte sich erst dann von Leonhard, als Paul sich zur Trennung von seiner Familie entschieden hatte. Leonhard, der daran glaubt, äußere Formen zu wahren, verzeiht den beiden scheinbar und sie begründen eine Dreierfreundschaft.

Zunächst begrüßen es Paul und Marlene, dass Leonhard Anja heiratet, weil es ein Gleichgewicht herzustellen scheint, das ihrer Dreierbeziehung gefehlt hat. Sie glauben, dass damit Leonhard endlich davon geheilt ist, dass Paul und Marlene ihn damals hintergangen haben. Doch durch Leonhards Heirat mit Anja entdecken sie allmählich, dass ihre Dreierfreundschaft ein hohles Konstrukt war, das einzig und allein auf formelhaften, festgelegten Gesprächen und Unternehmungen beruhte. Denn Anja stellt einerseits bald fest, dass Leonhard sie nur geheiratet hat, um diesen vermeintlichen Ausgleich herzustellen, andererseits funktioniert das Zusammenleben der beiden auch so nicht, weil ihre Ehe nicht auf Liebe basiert.

Nach einiger Zeit fangen Anja und Paul ein Verhältnis miteinander an, das letztlich dazu führt, dass Marlene sich von Paul trennt und Leonhard sich von Anja. Leonhard bittet Anjas Mutter, bei ihm einzuziehen, damit sie sich um den gemeinsamen Sohn kümmert. Paul trennt sich von Anja, weil er eigentlich schon mit Marlene zusammen bleiben – oder vielmehr, sich nicht von ihr trennen – will. Anja gleitet daraufhin in eine Alkoholabhängigkeit und stürzt sich wenig später in den Tod.

Es könnte eine banale, langweilige Geschichte sein. Wellershoff erzählt sie jedoch auf interessante Weise, aus den unterschiedlichen Perspektiven der vier Figuren, über weite Strecken im Rückblick und in einer ansprechenden Sprache. Dabei gelingt es ihm die meiste Zeit, Melodrama zu vermeiden.

In den Gedanken der Figuren über ihr Schicksal finden sich alles andere als konventionelle, klischeehafte Überlegungen: Auf eine gewisse Weise handelt nicht nur Anja, sondern jeder in diesem Roman seltsam ziel- und planlos. Sobald die Figuren ihre Motive, Gründe, Wünsche und Leidenschaften genauer betrachten oder hinterfragen, zerfallen sie ihnen. Ziemlich oft erscheint ihnen ihr Handeln selbst von Passivität, äußerem Zwang oder beliebigem Zufall getrieben, so als ob es letztlich vollkommen gleichgültig wäre, was sie tun oder für welche von mehreren Möglichkeiten sie sich entscheiden, oder ob es ihnen mit einer Lösung oder der anderen besser oder schlechter geht.

Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch | Deutsch
Kiepenheuer & Witsch 2000 | 396 Seiten | Jetzt bestellen