Daphne du Maurier: Ein Tropfen Zeit»In einer Nacht wie dieser … eine Verabredung mit wem? Die heutige Welt schlief, und meine Welt erwachte erst, wenn die Droge mich in ihre Gewalt bekam … Ich parkte den Wagen dicht am Graben, kletterte über das Tor zum Feld und suchte meinen Weg zu der Grube neben dem Steinbruch, denn hier hatte einst die Eingangshalle gelegen. Dort im Dunkeln neben einem Baumstumpf schluckte ich den Inhalt des Fläschchens…«

In ihrem ersten Quartalsprogramm 2015 präsentiert die Büchergilde Gutenberg nicht nur einen Klassiker im neuen Gewand, sondern liefert einmal mehr starke Argumente für das schöne Buch. Dass der Leser mit der außergewöhnlichen Geschichte um eine Droge der Sucht nach den Seiten erliegt und nicht merkt, dass die Geschichte bereits 1969 geschrieben wurde, beweist die einzigartige Erzählkunst der Grand Dame der englischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts. Die Rede ist von Daphne du Maurier und ihrem letzten großen Roman »Ein Tropfen Zeit«.

Der Professor der Biophysik Magnus Lane aus London experimentiert in seiner Freizeit heimlich mit einer Zeitdroge. Er überredet seinen Freund, den Schriftsteller Richard Young, sich für seine Versuche zur Verfügung zu stellen. Als Dank darf Young mit seiner Frau Vita und ihren beiden Söhnen aus erster Ehe in Lanes abgelegenem Landhaus in Cornwall Urlaub machen.

Im geheimnisvollen Keller geschieht das Unvorstellbare: Mit der Einnahme weniger Tropfen von Lanes »Zauber«-Flüssigkeit wird Young in das 14. Jahrhundert versetzt. Immer stärker verfallen Lane und Young dem gefährlichen Verlangen nach den historischen Ereignissen und Orten. Der eine lässt die Begebenheiten der Vergangenheit sogar von einem Studenten untersuchen und zeitlich belegen. Der andere fühlt sich von den Schauplätzen magisch angezogen. Manchmal fällt es Young schwer, die Zeiten auseinanderzuhalten und sich im Heute zu orientieren. Seine Angst, etwas zu verpassen – unbeherrschbar; der Trieb zum Voyeurismus – zügellos.

Als sich die beiden Freunde an einem Wochenende für einen gemeinsamen »Trip« in die Vergangenheit verabreden, wartet Young vergeblich auf seinen Freund. Lane kommt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Young ist inzwischen so abhängig von den bizarren historischen Geschehnissen, dass er seine Frau, die Polizei und gar den Richter, der Lanes Tod untersucht, belügt. Er riskiert leichtfertig seine Gesundheit und setzt seine Ehe aufs Spiel. Die Sucht hat ihn so fest im Griff, wie die unheimliche Geschichte inzwischen den Leser.

Wer den Text heute liest, lässt sich auf einen ungemein aktuellen Roman ein, der sich mit den Folgen herkömmlicher Sucht auseinandersetzt, aber auch die heutigen digitalen Entgleisungen, den exzessiven Gebrauch von Handy, Tablet und Co. oder die Sogwirkung der virtuellen Welt erklären kann. Mauriers Sprache ist kultiviert, an Metaphern reich und zeitlos. Der Leser wird hin und her gerissen zwischen den unglaublichen Geschichten, immer mit dem Verlangen noch tiefer einzudringen.

Einzig die wunderbar atmosphärischen Ölbilder von Kristina Andres lassen den Rezipienten zeitweilig inne halten und den Inspirationen nachspüren, die die Bilder zum Gelesenen wachrufen. Natürlich könnten die auch ganz für sich stehen. Doch sie fangen die mal traumverlorene, mal beklemmende und sogar heitere Stimmung des Romans hervorragend ein. Nicht nur der traurige Junge mit dem gesenkten Blick wird sich im Leser-Gedächtnis einbrennen, auch das kleine Fläschchen mit den Zeittropfen wird lange nachwirken.

Daphne du Maurier: Ein Tropfen Zeit | Deutsch von Margarete Bormann
Edition Büchergilde 2015 | 304 Seiten | Jetzt bestellen