Daniel Kehlmann: Die Vermessung der WeltNormalerweise vermeide ich es, Bücher zu lesen und zu bewerten, die zu den meistverkauften in Deutschland gehören. Zum einen, weil ich denke, dass solche Bestseller keine Werbung mehr benötigen. Zum anderen, weil mir spätestens seit dem Erscheinen von Hera Lind und Susanne Fröhlich klar ist, dass hohe Verkaufszahlen keine Rückschlüsse auf die Qualität von Büchern zulassen.

Bei Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«, ein Buch, das seit vielen Monaten in der Bestsellerliste vertreten ist, habe ich jedoch eine Ausnahme gemacht … und es nicht bereut.

Angelockt hat mich die Kurzbeschreibung des Romans, die darauf hinweist, dass der Entdeckungsreisende Alexander von Humboldt und der Mathematiker Carl Friedrich Gauß die beiden Hauptfiguren sind. Als ich die Inhaltsangabe las, musste ich an T.C. Boyles »Wassermusik« denken: ein Entdeckungsreisender, die Aufbruchstimmung Ende des 18. Jahrhunderts/Anfang des 19. Jahrhunderts, mehrere Handlungsstränge, exotische und vertraute europäische Schauplätze, Geschichte humorvoll und unterhaltsam aufbereitet.

Und tatsächlich erinnert »Die Vermessung der Welt« in vielen Punkten an Boyles »Wassermusik«. In beiden Geschichten spielt mit dem Orinoko bzw. dem Niger ein großer Fluss eine nicht unbedeutende Rolle. Die Beschreibung der wütenden Insektenschwärme und strapaziösen klimatischen Bedingungen in den von Humboldt und Mungo Park erforschten Gebieten scheint an mehreren Stellen beinahe austauschbar.

Was den schwarzen Humor betrifft, lassen sich ebenfalls Gemeinsamkeiten entdecken. Im Falle von »Wassermusik« erinnern wir uns »gern« an König Mansong, der zu Ehren von Mungo Park 37 Sklaven den Bauch aufschlitzen lässt. In »Die Vermessung der Welt« führt Kehlmann seine Hauptfigur Humboldt zu der Feststellung, dass so grausame Vorgänge wie die Opferrituale der Maya im zivilisierten Europa undenkbar wären.

Äußerst amüsant in »Die Vermessung der Welt« ist auch, wie Carl Friedrich Gauß schon als Kind seine Überlegenheit in mathematischen und logischen Denken unter Beweis stellt (oder es klugerweise unterlässt). Das erinnert an die Schlitzohrigkeit eines Ned Rise, der in »Wassermusik« den Gegenpart zum Entdeckungsreisenden einnimmt.

Nach der Lektüre einiger Leserstimmen auf amazon.de hatte ich kurz gezögert, mir Kehlmanns Roman als Urlaubslektüre zuzulegen. Vorgeworfen wird dem Autor dort ein zu lascher Umgang mit der Geschichte. Dabei verrät der Klappentext des Buches eindeutig, dass es sich um »ein raffiniertes Spiel mit Fakten und Fiktionen« handelt und um einen »philosophischen Abenteuerroman von seltener Phantasie«. Es geht also nicht um Authenzität. Wer das nicht begreift, ist selber Schuld.

Etwas anders verhält es sich mit der Kritik an den fehlenden Anführungszeichen bei wörtlicher Rede. Daran muss man sich als Leser in der Tat erst einmal gewöhnen. Aber warum hat der Autor darauf verzichtet? Sicher nicht aus Bequemlichkeit. Im Gegenteil: Man bekommt nach einigen Seiten den Eindruck, der Verzicht auf die Anführungszeichen zwingt den Autor zu unzähligen Konjunktivsätzen, die in ihrer Gesamtheit irgendwie eine altertümelnde Tonalität erzeugen, eine Sprache also, die an die deutsche Klassik erinnert, an Goethe und Schiller, die in »Die Vermessung der Welt« als Randfiguren auftauchen. Wenn Daniel Kehlmann das mit dem Weglassen der Anführungszeichen bezwecken wollte: herzlichen Glückwunsch!

Gratulieren kann man ihm auch zu seinem Talent, die Balance zu halten. Nie rutscht er mit seinem Humor in Albernheiten ab, und obwohl er sowohl Gauß als auch Humboldt des öfteren der Lächerlichkeit preisgibt, indem er ihre Gedanken und Aussagen aus dem Kontext ihrer Zeit reißt, verliert der Leser zu keinem Zeitpunkt den Respekt vor diesen zwei herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Geschichte.

»Die Vermessung der Welt« ist deshalb ein Buch, das seinen Platz in der Bestsellerliste wirklich verdient hat. Wenn man dem Roman etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er viel zu kurz geraten ist. Denn schon nach rund 300 Seiten ist der historische Spaß vorüber.

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt | Deutsch
Rowohlt 2005 | 304 Seiten | Jetzt bestellen