Cormac McCarthy: VerloreneDie USA in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der junge Suttree lebt auf einem heruntergekommenen Hausboot auf dem Fluss Tennessee bei Knoxville im gleichnamigen Bundesstaat. Das bisschen Geld, das er braucht, verdient er sich mit Fischen, die er an Händler verkauft, oder manchmal an Bedürftige verschenkt. Denn Suttree kümmert sich, trotz seiner eigenen Probleme, um andere. Er schaut zum alten Lumpensammler, er versucht dem Schwarzen zu helfen, der sich, des Lebens endgültig müde, von Polizisten zu Tode prügeln lässt.

Genauso wie das Boot auf dem Fluss treibt, scheint auch Suttree auf seinem Leben zu treiben. Ein Aussteiger, ein Verweigerer, der seine Gründe hat, die McCarthy ebenso wenig verschweigt wie die scheinbare Machtlosigkeit des Verlorenen gegenüber des eigenen Schicksals. Immer wenn er sich auf die Beziehung mit einer Frau einlässt, geht es schief. Wie ein Fluch, der auf ihm lastet, und der ihm von Kindesbeinen an von seiner Familie auferlegt wurde.

Trotzdem gibt er nicht auf. Wie die meisten anderen, die am Flussufer gestrandet sind. Merkwürdige Typen, Saufköppe, Transvestiten, Tagelöhner – »Verlierer«, die eine Gesellschaft produziert, in der nichts anderes als der Erfolg zählt. Sei er auch noch so frech erlogen, oder schlimmer – mit dem Blut anderer erkauft. So haben sich die Verlorenen des Systems eben in die Flussniederungen, in Höhlen, Zelten, Hausbooten und Hütten zurückziehen müssen. Die etablierte Gesellschaft tritt den Verlorenen nur in Form von brutalen Polizisten gegenüber. Und dann landen sie meistens im Arbeitshaus, und dann im Knast.

Ist schon die Geschichte des Suttree, nicht zuletzt durch geschickte dramaturgische Kniffe, spannend, witzig, traurig – wie man es von einem guten Roman erwartet – wird das Ganze auch noch zusammengehalten von der großartigen, wortgewaltigen Sprache von Cormac McCarthy. Zugegeben, erst war ich skeptisch, ob ich die über sechshundert Seiten lesen könnte. Aber schon nach kurzer Zeit haben mich die Story und die Sprache in den Bann gezogen. Ein paar Beispiele? Bitte schön – ich schlage eine beliebige Seite auf:

… und als die sechs dann nebeneinander in der Kirchenbank standen, wirkten sie wie eine jener Figurreihen, die sich Verrückte in ihrer Freizeit aus grellbunten Tapeten zurechtschneiden. Alles gaffte.

Oder:

… im kahlen Schlachthaus zurechtgeschnittenes Rind neben blauflockig angeschimmelten Schinken an Fleischerhacken. Im Fischmarkt kalte graue Leiber, matt illuminiert in Trögen mit zermahlenem Eis.

Das ist Rhythmus. Das hat einer geschrieben, der genau weiß, was er da macht. Jeder Satz ist differenziert und wohl überlegt. Ich ärgere mich, dass ich das Buch nicht im Original lesen kann. Daher ein dickes Lob an dieser Stelle an den Übersetzer Hans Wolf!

»Verlorene« ist 1979 erstmals erschienen. Er ist neben »Die Straße« der zweite Roman von McCarthy, den ich gelesen habe. Und er bekommt einen Platz in meinem Regalfach für besondere Bücher. Neben »Berlin Alexanderplatz«, »Früchte des Zorns«, »Die Klavierspielerin« und »Ripley Bogle«.

Cormac McCarthy: Verlorene | Deutsch von Hans Wolf
Rowohlt 1992 | 656 Seiten | Jetzt bestellen