Anna Seghers: TransitDer Weltflüchtlingstag am 20. Juni ist seit diesem Jahr in Deutschland gleichzeitig der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung.

Nach der Zählung des UNO-Hochkommissariats gab es 2014 weltweit die höchste Flüchtlingszahl seit dem 2. Weltkrieg: 51,3 Millionen Menschen. Ein Zehntel davon wurde dazu getrieben, die angestammte Heimat zu verlassen. International gibt es derzeit 1,4 Millionen Vertriebene, davon ca. 77.000 Asylsuchende in Deutschland hauptsächlich aus Syrien, den Balkan-Staaten, Eritrea, Afghanistan, Somalia und dem Irak …

Sich in die zwiespältige Gedankenwelt eines Flüchtlings hinein zu versetzen, fällt schwer. Anna Seghers‘ Roman »Transit« bringt dem Leser die Thematik konfliktreich und gleichzeitig spannend nahe. Er wurde nach einer englischen und einer spanischen Ausgabe 1944 erstmals 1948 in deutscher Sprache veröffentlicht. Das Buch zieht den Leser rasch in die scheinbaren Widersprüche und Vertracktheiten des namenlosen Erzählers.

Ein junger Deutscher flieht 1940 aus einem Konzentrationslager nach Frankreich und entkommt dort aus einem Internierungslager. Er soll in Paris dem Schriftsteller Weidel eine Nachricht überbringen. Doch Weidel hat Selbstmord begangen. Als der Erzähler in Weidels Papieren ein gültiges mexikanisches Einreise-Visum findet, schlüpft er in dessen Rolle. Auf dem Weg nach Marseille bekommt er auch noch Personalpapiere auf den Namen Seidler. In der französischen Hafenstadt kann unser Protagonist die Behörden davon überzeugen, dass Weidel und Seidler identisch sind. Inzwischen rücken die deutschen Truppen nach Süden vor. Die Gefahr wächst. Außerdem sucht Weidels Frau Marie nach ihrem Mann. Als sie auf unseren Erzähler trifft, verschweigt der Weidels Tod.

Alle Handlungsmomente werden hier auf den Kopf gestellt. Der Hauptdarsteller bekommt seine Ausreise-Papiere ohne Anstrengungen. Er bleibt in einem besetzten Land, während die Masse verzweifelt Fluchtmöglichkeiten auslotet. Doch die Flucht rettet weder Marie noch den Arzt. Der Leser wähnt sich zweitweise wie in einem Märchen. Auch da muss das Richtige getan werden. Der falsche Weidel/Seidel lernt Echt und Unecht zu erkennen und bewahrt sich so ein Stückchen Solidarität. Sein wahres Ich verbirgt sich hinter den verschiedenen papiernen Identitäten. Seine Menschlichkeit droht in der Maschinerie des Transit-Wesens unterzugehen. Dass er darin nicht zerrieben wird, verdankt er dem Kontakt zu Mitemigranten; Freunden in Marseille und dem unfertig gebliebenen Manuskript des toten Schriftstellers Weidel, dass er zu lesen beginnt.

Weidels Schicksal erfüllt den Erzähler mit Anteilnahme und Respekt und hilft ihm, seine Rolle in der eiligen Transit-Welt zu durchschauen. Schließlich widersteht er ihr. Transit wird zum Zeichen der Zeit: ob in Form von Papier, eines Visums, im Handeln der Menschen oder in ihrem Charakter. In der Transit-Welt lässt jeder jeden im Stich.

Transit scheint so gegenwärtig wie nie. Während »Pegidas« Gespenst durch Deutschlands Städte geistert, IS-Schergen die Welt terrorisieren und die Ausmaße des Klimawandels kaum noch einzudämmen sind, drängen immer mehr Flüchtlingsströme nach Europa. Tausende Menschen ertrinken im Mittelmeer. Wer seine Geschichte aufschreibt, bleibt vergleichsweise einsam. Wer sie erzählt, braucht den Zuhörer, der an der Geschichte teilhaben, sie reflektieren und weitererzählen, trösten und ermutigen kann. Dies hat auch unsere Hauptperson in Transit erkannt:

»Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang bis zu Ende …«

Anna Seghers ist das Erzählen in ihrem Roman »Transit« vorzüglich gelungen. Auch beim Lesen können wir ihr zuhören, Anteil nehmen, unsere Erfahrungen überdenken und Stellung nehmen. Wir können die Geschichte weiter erzählen, Mut machen und trösten: wenn wir die Transit-Welt verlassen.

Anna Seghers: Transit | Deutsch
Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung 2007 | 290 Seiten | Jetzt bestellen